Sechs Fragen an Fiete Stegers, Autor der Studie "Desinformation in Deutschland"

1. Am 26. September ist Bundestagswahl, und das Thema „Fake News“ und „Desinformation“ spielt dabei vor allem in den Sozialen Medien eine große Rolle. Welche Ergebnisse hat Ihre Studie gerade in Bezug auf die bevorstehenden Wahlen gebracht? Müssen wir Angst haben, von einer Welle an Fake News überrollt zu werden? 


Angst haben müssen wir nicht. Knapp ein Drittel der von mir befragten Expertinnen und Experten sieht Desinformation als großes Problem im Wahlkampf an. Andere erwarten eher, dass es – wie inzwischen vor jeder Wahl - zwar eine Zunahme an Falschinformationen und Manipulationsversuchen im Netz geben wird, ihr tatsächlicher Einfluss aber eher gering ist. Generell halten nur 20 Prozent der Befragten die direkte Manipulation von Wahlen in Deutschland für eher wahrscheinlich. Für viel problematischer halten sie die langfristige Wirkung: Als größte Gefahr sehen 79 Prozent der Fachleute die weitere Polarisierung der Gesellschaft an. 74 Prozent befürchten die Radikalisierung von Einzelpersonen durch Falschinformationen. Insgesamt ist die langfristige gesellschaftliche Wirkung von Falschinformationen noch zu wenig erforscht.

 

 2. Wie kann man eigentlich Desinformationen messen? Wie sind Sie da bei Ihrer Studie vorgegangen?


Falschinformationen in den sozialen Medien wirklich umfassend zu messen, ist viel komplexer als Twitter-Trends zu beobachten oder Facebook-Likes zu zählen: Welche Themen beobachte ich, und welche Inhalte stufe ich als falsch oder irreführend ein? Werte ich Reaktionen auf einen Post aus, oder versuche ich zu erfassen, wie viele Menschen dieser potenziell erreicht haben kann? Untersuche ich YouTube oder Instagram? Und was ist mit geschlossenen WhatsApp-Gruppen, die ich als Forscher nicht einsehen kann?

Die meisten Studien fokussieren sich daher auf bestimmte Social-Media-Plattformen, Themen oder Akteure. Deshalb habe ich den indirekten Weg der Operationalisierung gewählt und Fachleute, die sich schon lange mit Desinformation und Missinformation im Netz beschäftigen, nach ihrem Gesamteindruck gefragt. Die relevanteste Plattform für die Verbreitung in Deutschland ist demnach WhatsApp, gefolgt von Facebook und YouTube. Der Messenger Telegram spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, obwohl er viel weniger Nutzer als die drei genannten Plattformen hat. Komplex zu erzeugende Formen der Desinformation wie Deep-Fake-Videos spielen kaum eine Rolle – verzerrte Darstellungen, schlichte Behauptungen und suggestive Deutungen dominieren.


3. Gibt es einen „Max Mustermann“ für Desinformation? Oder anders: Wer ist besonders anfällig für Desinformationen und warum?

 

Grundsätzlich sind wir alle anfällig für Falschinformationen und erliegen Wahrnehmungsverzerrungen. Menschen neigen dazu, Informationen leichter Glauben zu schenken, die ihren bisherigen Erfahrungen oder ihrem politischen oder gesellschaftlichen Weltbild entsprechen. Das halten auch die Fachleute meiner Studie für den wichtigsten Faktor. Einhellig waren sie auch in ihrer Bewertung: Ältere Menschen sind deutlich gefährdeter als junge Menschen, Opfer von Desinformationskampagnen zu werden. Das hängt sicherlich mit grundsätzlichen digitalen Kompetenzen zusammen. Aber während für Jugendliche inzwischen zahlreiche Bildungsangebote zur Stärkung der Medien- und Nachrichtenkompetenz existieren und diese über Schulen zumindest theoretisch leichter erreicht sind, sieht es für die Generationen im Rentenalter sehr sparsam aus.


4. Sind eigentlich Fake News und Desinformationen das gleiche? 


Den Begriff „Fake News“ lehnen Fachleute ganz klar ab. Mit ihm lässt sich zwar Aufmerksamkeit generieren, aber was die Menschen darunter genau verstehen, kann sich sehr stark unterscheiden. Für die einen sind es gefälschte Nachrichten-Websites und aus dem Zusammenhang gerissene Bilder. Andere zählen auch einfache journalistische Fehler dazu oder benutzen den Begriff im Alltag sehr salopp, ohne groß nachzudenken. Und er ist natürlich politisch aufgeladen und wird – wie von Trump – benutzt, um missliebige Medienberichterstattung oder andere politische Meinungen pauschal abzuqualifizieren.

Fachleute unterscheiden deshalb zwischen absichtlich manipulativ gestreuter Desinformation und unabsichtlich verbreiteten Falschinformationen (englisch ‚misinformation‘). Ein ganz klares Begriffspaar hat sich hier aber in Deutschland auch in der Fachwelt noch nicht herausgebildet.


5. Woher stammen die meisten der vorhandenen Desinformationen im Netz, und mit welcher Absicht werden Sie verbreitet?


Das zu quantifizieren und die Absichten der Akteure klar zu belegen, ist aus den bereits genannten Gründen schwierig. Ich teile aber den Eindruck vieler Fachleute, der auf unterschiedlichen Einzelstudien fußt: In Deutschland werden falsche und verzerrte Informationen überwiegend von Akteuren aus dem rechtspopulistischen bis rechtsextremen Lager geteilt und in Umlauf gebracht. Das Thema Migration ist hier ein Dauerbrenner. In den vergangenen Monaten war das alles beherrschende Thema Corona – wenig überraschend aufgrund der Ausnahmesituation und den sich verändernden Erkenntnissen und Empfehlungen auch der Wissenschaft. Über das Vehikel Corona konnten esoterische Impfgegner und Rechtspopulisten auch verunsicherte Menschen außerhalb ihres bisherigen Publikums erreichen.

 

6. War die Corona-Pandemie der Auslöser für die Studie, oder gab es da einen anderen Ansatzpunkt?


Nein, Ziel der Studie war es, einen Gesamtüberblick über ansonsten schwer zu operationalisierende Aspekte zu gewinnen und festzustellen, wo bereits Konsens unter Expertinnen und Experten herrscht und wo diese den größten Forschungs- und Handlungsbedarf sehen. Deutlich war zum Beispiel das Ergebnis, dass die Fachleute eine große Gefahr darin sehen, dass Medien durch eine ungeschickte Berichterstattung oder zu starke Orientierung an aufgeregten Internetnutzern und -nutzerinnen mit zur Verbreitung von Falschinformationen beitragen.


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