mfm-Interview: Drei Fragen an Nils Heisterhagen

Die taz nennt ihn den einzigen jüngeren Intellektuellen, den die SPD hat: Nils Heisterhagen. 

Der Publizist und Politologe hat einen vielseitigen Lebenslauf: Er hospitierte und arbeitete schon bei der Wirtschaftswoche, dem Magazin Cicero, im Deutschen Bundestag, in Industrieunternehmen und beim Progressiven Zentrum. Er war Grundsatzreferent und Redenschreiber für die Vorsitzenden der IG Metall und bis September 2018 Grundsatzreferent der Landtagsfraktion der SPD in Rheinland-Pfalz. 

Wir sind vor allem durch sein Buch „Verantwortung - Für einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels“ auf ihn aufmerksam geworden und haben ihm ein paar Fragen dazu gestellt:

Sie haben soeben ein neues Buch herausgebracht, in dem Sie die SPD stark kritisieren. Was sind Ihre Hauptkritikpunkte? 

Ich kritisiere die SPD nicht – ich untersuche, warum sie weniger gewählt wird. „Kritik“ kommt aus dem Altgriechischen und meint ursprünglich „Untersuchung“. Sie kennen ja sicherlich auch die „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant. Hier meint Kritik also etwas Positives. Nämlich Untersuchung. Was sind also meine Hauptkritikpunkte? Ich fordere die SPD auf, weniger eine „Haltungslinke“ und mehr eine „Handlungslinke“ zu sein. Politik besteht darin, etwas hinzubekommen. Etwas ganz greifbar zu verändern. Plastisch ausgedrückt: Weniger reden, mehr machen. Im Übrigen ist „Verantwortung“ aber kein SPD-Ratgeber-und-Hilfe-Buch. Mir geht es auch darum zu zeigen, was Verantwortung in der heutigen politischen Landschaft eigentlich bedeuten muss. Ich gehe also auch philosophisch der Frage nach: Was bedeutet Verantwortung?

Sie fordern die SPD – aber letztlich gilt das ja für alle Parteien – auf, wieder mehr auf „das Operationale“ zu setzen. Ist damit gemeint, was Kurt Beck als „nah bei die Leut" bezeichnete? Und wie finden die Parteien zurück zur Basis?

Das „Operationale“ meint, dass man in der Politik nie um die Frage „Wie denn?“ herumkommt. Realpolitik bedeutet immer auch, über Wege und Instrumente zu reden. Mir wird zu viel über Ziele, Zwecke und Weltbilder geredet. Ich gebe ihnen ein Beispiel: Wenn Politik nur noch die Frage sein soll „Welche Haltung hast du? Wie stehst du zu diesem und jenem?“, dann brauchst du eigentlich keine Politiker dazu. Dazu würden auch Journalisten und Publizisten ausreichen. Politik hat also etwas mit Handlung zu tun. Und dann muss man fragen „Welche Handlung“? Wohnungskonzerne enteignen oder neue Wohnungen bauen und die Wohnungsgemeinnützigkeit wiedereinführen? Migration steuern – aber wie? Sozialstaat stärken – aber wie? Wirtschaft ankurbeln – aber wie? Das meine ich mit „das Operationale“. Mit Kurt Becks „nah bei die Leut“ hat das erstmal nichts zu tun. Bei Kurt Becks Spruch geht es um die Nähe zu den normalen Leuten, um Zuhören, Hinhören – um Politik als Ausdruck der Interessen realer Menschen und nicht nur der Imagination ihrer Interessen und Wünsche. Die stärkere politische Bearbeitung des „Operationalen“ würde jedenfalls Bürgern klar machen, dass man für sie und das Land das Beste erreichen will. Ihnen würde klar: Die Politiker wollen was schaffen. Das würde Vertrauen zurückbringen. Um noch mal zur letzten Frage zurückzukehren: Weniger reden, mehr machen!

Sind Sie der Meinung, dass wir jetzt auch in Deutschland dem „Tod der Volksparteien“ entgegen sehen, und was wären die Konsequenzen in Deutschland, zu dessen politischer und wirtschaftlicher Stabilität die Volksparteien ja maßgeblich nach dem Krieg bis heute beigetragen haben?

Naja, momentan stellen sich die Volksparteien schon außerordentlich dumm an. Sie sind eher von internen Mustern geprägt. Das meint, dass viele Funktionäre nach innen sprechen, um sich dort Posten, Macht und Deutungshoheit zu sichern. Man spricht weniger direkt an die Wähler. Das interne Publikum scheint mir für viele oft wichtiger als das externe Publikum. Aber das externe Publikum ist doch viel wichtiger. An der Wahlurne wird abgerechnet. Außerdem müssen Volksparteien wieder lernen, was Volkspartei eigentlich heißt. Es meint Folgendes: Man muss die Pluralität der Meinungen der Gesellschaft weitgehend akzeptieren. Und dann muss man sie integrieren. Das machen Volksparteien. An manchen Orten bekommt etwa die SPD das noch hin. Etwa in Niedersachsen oder in Hamburg. Eine Partei der stromlinienförmigen Engführung, zu der die Bundes-SPD in letzter Zeit zunehmend verkommen ist, die gewinnt hingegen nicht. Die geht nur unter. Auf jeden Fall wäre eine Revitalisierung der Volksparteien wünschenswert. Sie stabilisieren das Land. Sie zeigen, dass es Einheit in der Vielfalt geben kann. Das ist doch etwas Gutes. 

Was war der Anlass, dieses Buch zu schreiben? Wenn man sich die Kommentarspalten unter Ihren Interviews durchliest, dann haben Sie sich in der eigenen Partei keine Freunde gemacht. Welche Reaktionen haben Sie direkt aus der SPD bekommen?

Der Anlass für das Buch war, dass ich möchte, dass die politische Linke noch eine Zukunft hat. Ich glaube, die SPD hat nur als Verantwortungslinke eine gute Zukunft. Als Diskurslinke hingegen nicht. Man muss immer sagen, was man für die Menschen tun will und es dann eben tun. Und ja, ich bekomme von Journalisten einigen Zuspruch und Aufmerksamkeit für meine Thesen, aber in meiner Partei habe ich es da schwerer. Ich fordere einen Dreiklang: Links in der Steuer- und Sozialpolitik, pragmatisch in der Wirtschaftspolitik und realistisch bei Innerer Sicherheit und Migration. Vor allem mit dem Realismus bei Letzterem tut man sich in der SPD schwer. Ich verstehe nur nicht, warum eigentlich. Sozialdemokraten sind, wie die Zeit-Journalistin Mariam Lau einmal sagte, eigentlich die geborenen Migrationspolitiker, und als in der SPD die Realisten der Inneren Sicherheit wie Otto Schily ganz vorne mit dabei waren, hat sie viele Wähler gewonnen, die damals sonst CDU gewählt hätten oder die heute CDU oder AfD wählen.  Ich meine: Was soll ein Polizist denn heute wählen? Wenn manche Jusos als erstes auf die Idee kommen, „Bullenschwein“ zu rufen, was soll der Polizist da denken? Aber eine SPD, die für einen „starken Staat“ in der Inneren Sicherheit steht, ist auch für den Polizisten wählbar. Ich verstehe nicht, warum man sich in der SPD aus reiner strategischer Dummheit bei der Inneren Sicherheit so eine offene Flanke leistet.
 
Welchen Politiker oder welche Politikerin in der SPD sehen Sie, der oder die Ihr Buch quasi in Handlungen umsetzen könnte? 

Tja, gute Frage. Franziska Giffey hat sicher Talent. Ansonsten hat das vergangene 6-monatige SPD-Casting gezeigt, dass die SPD personalpolitisch ziemlich ausgedünnt ist. Es wird Zeit, gezielt kluge Leute aufzubauen, um sie perspektivisch in die erste Reihe stellen zu können. Momentan ist die Talent-Dichte der SPD echt etwas dünn. 


Link zum Buch: http://dietz-verlag.de/isbn/9783801205690/Verantwortung-Fuer-einen-neuen-politischen-Gemeinsinn-in-Zeiten-des-Wandels-Nils-Heisterhagen
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