Vier Fragen an: Prof. Dr. Jost Reinecke, Professor für Sozialforschung, Universität Bielefeld

1. Herr Prof. Dr. Reinecke, Sie haben in rund 400 Kreisen und kreisfreien Städten in Deutschland untersucht, ob, und wenn ja, welchen Zusammenhang es zwischen steilen Inzidenzkurven der Corona-Wellen im Frühjahr und Herbst 2020, und einem hohen Anteil der AfD-Zweitstimmen gibt. Was hat Ihre Forschungsarbeit ergeben? Ist dies eine Korrelation oder gibt es einen kausalen Zusammenhang? 

Der Zusammenhang zwischen Zustimmung zur AfD und steigenden Inzidenzzahlen kann aus unserer Sicht für die beiden Infektionswellen bestätigt werden. In Regionen mit einem höherem Zuspruch zur AfD stiegen die Infektionszahlen in beiden Wellen also deutlich stärker an. In Zahlen ausgedrückt, bedeutet das beispielsweise, dass ein Anstieg der AfD- Wahlergebnisse um einen Prozentpunkt die durchschnittliche Infektionshöhe in der 1. Welle um 2,2 Prozentpunkte erhöht. Die Infektionshöhe in einem Kreis mit 20% Zweitstimmenanteilen der Partei liegt demnach 22 Prozentpunkte über einem Kreis mit lediglich 10% Zweitstimmenanteilen.
Diesen Effekt sehen wir systematisch in beiden untersuchten Wellen und sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland. Für andere im Bundestag vertretene Parteien konnten wir keine vergleichbaren systematischen Effekte feststellen.
Wir haben außerdem untersucht, inwiefern andere Merkmale, die ebenfalls Effekte auf das Inzidenzgeschehen zeigen, möglicherweise den Zusammenhang zwischen Wahlverhalten und Inzidenzgeschehen mit beeinflussen könnten. Mehr als 35 unterschiedliche Merkmale, etwa zur wirtschaftlichen Lage, der Infrastruktur, dem Gesundheitswesen, der Mobilität, der Altersstruktur, den Wohnverhältnissen, der Nähe zu Grenzregionen und der Bevölkerungsdichte sowie viele Weitere, wurden untersucht und konnten als Alternativerklärungen für diesen Zusammenhang ausgeschlossen werden. Auch wenn aufgrund der schwierigen Datenlage Methoden zur kausalen Überprüfung nicht angewendet werden konnten, zeigen sich die Zusammenhänge als sehr robust gegenüber zahlreichen Dritteinflüssen.

2. Inwieweit würden Sie sagen, dass eine skeptische Einstellung gegenüber demokratischen Institutionen zu einer mangelnden Impfbereitschaft und auch zu steigenden Inzidenzen führt?

Da sich unsere Studie auf die beiden Wellen des Jahres 2020 bezog, können wir zur Impfbereitschaft anhand unserer Ergebnisse keine Aussagen treffen. Tatsächlich legen die Befunde unserer Studie nahe, das skeptische Einstellungen gegenüber demokratischen Institutionen eine Schlüsselrolle für den untersuchten Zusammenhang spielen könnten, da wir ähnliche Effekte auch bezüglich der Zustimmung zu rechtsextremen Kleinparteien und hohen Nichtwählendenanteilen zu früheren Wahlen (2005, 2013) aufzeigen konnten. Aus der Forschung ist bekannt, dass insbesondere Personen, die Parteien der radikalen Rechten anhängen, skeptische bis ablehnende Haltungen zu den demokratischen Institutionen zeigen, die im Management der Pandemie eine zentrale Rolle gespielt haben (beispielsweise zur Regierung, den öffentlich-rechtlichen Medien, der Wissenschaft). Anhänger, beziehungsweise Anhängerinnen dieser Parteien sind seltener bereit, sich an Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu halten.

3. Gab es zusätzliche Faktoren, die in diesen Wahlkreisen zu hohen Inzidenzwerten geführt haben?

Auch wenn es nicht Hauptgegenstand der Studie war, haben wir zahlreiche weitere Merkmale im Rahmen der Kontrolle anderer sogenannter Drittvariablen beobachten können, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten einen relevanten Einfluss auf das Infektionsgeschehen in den Wellen ausüben. Das gilt beispielsweise für die Altersstruktur der Kreise, für das Ost-Westgefälle, für die Bevölkerungsdichte und für das Ausmaß der wirtschaftlichen Deprivation sowie für spezifische Arbeitsmarktsektoren (beispielsweise das verarbeitende Gewerbe). 

4. Herr Prof. Dr. Reinecke, Sie sind bereits ersten Anfeindungen von Seiten der AfD ausgesetzt. So unterstellte Ihnen der Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner, dass Sie mit Ihrer Studie der AfD die Schuld an der Pandemie geben. Aus den Sozialen Medien wissen wir, dass die AfD-Szene und deren radikales Umfeld nicht zimperlich mit Anfeindungen und Angriffen bis hin zur tatsächlichen Umsetzung ist. Sind Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen weiteren Anfeindungen ausgesetzt gewesen, und wenn ja, wie reagieren Sie?

In unserer Studie haben wir Forschungsbefunde veröffentlicht, die strengen wissenschaftlichen und methodischen Kriterien folgen. Wir erfahren bisher viel öffentliches Interesse und positive Rückmeldung und begrüßen die öffentliche und konstruktiv-kritische Debatte über Befunde aus der Wissenschaft ausdrücklich. Problematisch sind Debattenbeiträge, die den Rahmen sachlicher Debatten verlassen, sich nicht auf unsere Studienbefunde beziehen oder diese auch ‒ mutmaßlich willentlich ‒ falsch darstellen. Hier ist es nach unserer Erfahrung nur bedingt sinnvoll, auf eventuelle Missverständnisse und falsche Schlussfolgerungen hinzuweisen. Auf persönliche Anfeindungen reagieren wir in aller Regel nicht. 

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